Leseprobe
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Kalter Wind streicht mir durchs Gesicht. Es sind nur wenige Meter von der Bushaltestelle bis zum Eingang. Über der Eingangstür lacht mich auf einem Banner der Schriftzug „Silvester-Empfang des FTEBL“ aus. Keine Einladung, sondern mein Mitgliedsausweis verschafft mir Zugang. Heute habe ich keinen Auftritt, diesmal sind die anderen dran.
Die meisten sind, dass muss ich leider zugeben, schlicht-weg die besseren Schauspieler. Kein Grund für Neid, schließlich hatte ich dieses Jahr schon meine Auftritte.
„Freies Theater Ensemble Bergisches Land“ – „frei“ ist ein so relatives Wort. Ja, ich bin freiwillig Mitglied und tat-sächlich stehe ich gerne auf der Bühne. Hier sein muss ich jetzt auch nicht. Theoretisch bin ich es freiwillig – aber praktisch? Praktisch bin ich hier, weil ich sonst wieder einmal alleine zu Hause wäre. Alleine mit mir und meinen Gedanken. Freiheit ist relativ. Hier zu sein ist für mich übel, weil ich solche Feiern nicht ausstehen kann. Es ist ein Übel – aber das kleinere Übel.
Außerdem steht gleich Marko als James in „Diner for one“ auf der Bühne, mit seiner Schwester Lisa – unser „Dream-Team“.
Marko ist zweifellos unser bester Mann im Ensemble. Mit ihm würde ich heute gerne auf der Bühne stehen – oder vielleicht auch besser nicht. In seiner Nähe vergesse ich seit ein paar Wochen meine Texte.
Wäre ich jetzt nicht hier, dann wäre ich alleine zu Hause mit meinen Gedanken. Gedanken an meine Einsamkeit und Gedanken an Marko. Keine gute Kombination. War es an Weihnachten schon nicht und ist es an Silvester genauso wenig.
Dann doch lieber das Gewimmel der geladenen Gäste. Die „Crème de la Crème“ der Bergischen Lokalpolitik und Wirtschaft. Quasi alles, was sich für wichtig hält und ich, der, bestenfalls mittelmäßige, Laienschauspieler.
Im Gegensatz zu Marko, werde ich hier jedenfalls von keinem der Gäste erkannt. Kein Anlass, um Autogramm-Karten parat zu haben.
„Stefan!“
Ich drehe mich um. „Mike, wie geht es dir?“
„Na, prima! Das ist doch die Feier des Jahres und wir beide mitten drin!“
Mike hat ein mit mir vergleichbares schauspielerisches Talent. Manchmal denke ich aber, er ist nur dabei, um sich an solchen Tagen unter die „High-Society“ mischen zu können.
„Du sitzt ja auf dem Trockenen – auf zur Bar!“
Ich folge ihm. An der Bar ist noch viel Platz und wir beset-zen zwei der Barhocker. Kaum habe ich mein Bierglas in der Hand, klackt Mikes dagegen.
„Prost! Auf das alte Jahr!“ Trinkend dreht er sich um. Se-kunden später stößt er mich mit seinem Ellenbogen an. Mit hochgezogenen Augenbrauen deutet sein Blick auf eine langhaarige Schönheit. „Und?“
„Nicht mein Typ“, antworte ich kühl.
„Ach, komm, schau dir mal ihr Fahrwerk an!“
Ich schaue auf mein Bierglas. Das Kölsch erinnert mich an Markos Haare. „Weißt du, wer sie ist?“
Irgendeine Ex-Sekretärin und zukünftige Ex-Frau eines Aufsichtsratsdingsbums von so-und-so. Das oder etwas ähnliches antwortet Mike. Hoffentlich sabbert er gleich nicht in sein Bier.
„Oh, ich liebe diesen Tag. Jedes Jahr ein Spektakel, oder?“ Er schaut beim reden mit mir der nächsten hinterher.
„Nein!“, antworte ich und erwarte, dass er es ignoriert.
„Was?“ Jetzt schaut er mich an.
„Nein,“ wiederhole ich, „ich finde es nicht spektakulär. Eher ätzend ...“
„Häh?“
„Die Party – ich finde sie ätzend“
„Aber ..., äh ... – und warum bist du dann hier?“
„Alleine zu Hause wäre es noch schlimmer ...“
„Ach!“ Mike lacht dreckig. „Was dir fehlt ist eine Maus fürs Bett! Eine, die dich mal so richtig auspowert!“
Bevor ich antworten kann, steht Lisa Behneker vor uns, schaut Mike kurz an und geht Kopfschüttelnd weiter. Mich schaut sie vorher kurz an und verdreht die Augen.
„Wie wäre es mit Lisa?“ Mike grinst mich schmierig an. „Im Winter wird es mit ihr jedenfalls nicht kalt – mit dem Holz vor ihrer Hütte.“
Sein Lachen ekelt mich an. Ich muss weg hier. Doch wohin? Und wie verhindere ich, dass Mike mir folgt? Ich würde lieber Lisa in die Maske folgen. Dort müsste dann auch ihr Bruder sein. Marko! Wäre ich so hübsch wie seine Schwester und kein Kerl, hätte ich vielleicht eine Chance bei ihm.
„Oder sie?“ Mike deutet wieder mit seinen Augen irgendwohin. „Nicht der Body von Lisa, aber dafür hat sie bestimmt viel Kohle. Hab' sie vorhin alleine aus einen Porsche steigen sehen.“
„Dann schnapp du sie dir!“, fordere ich Mike auf und hoffe, ihn so davon abzubringen, mir weiterhin irgend welche Frauen auszusuchen. Das ich nicht auf Frauen stehe, hat sich offensichtlich noch nicht herum gesprochen, sonst wüsste Mike es mit Sicherheit. So hat mir der Abend wenigstens diese Erkenntnis gebracht. Wenn ich nun auch noch Mike, er redet schon wieder über irgendjemanden, los werde und gleich Marko auf der Bühne steht ...
„Stefan!“ Die Stimme von Walter reißt mich aus meinen Gedanken. „Stefan – du bist hier?“ Er nimmt mir mein Bierglas aus der Hand und zieht mich hinter sich her. Im gehen stellt er das Glas auf die Theke. „Du bist unsere Rettung. Du kannst doch die Rolle des James? Klar kannst du! Marko ist ausgefallen. Knöchel verknackst, oder so. Und René, die Zweitbesetzung, hat Magen-Darm. Du musst auf die Bühne. Schnell!“ Er schiebt mich in die Maske, setzt mich auf den freien Stuhl neben Lisa und verschwindet.
„Jedes Jahr das selbe!“ beginnt Lisa ein Gespräch. „Walter freut sich wochenlang auf diesen Abend und dann hat er so viele Probleme zu lösen, dass er überhaupt nicht dazu kommt, den Abend zu genießen.“
„Das Schicksal eines Theaterleiters ...“ antworte ich wenig geistreich.
„Du genießt die Party auch nicht?“ Sie ignoriert meine Antwort. „Habe vorhin zufällig mitbekommen, wie du mit Mike geredet hast.“
„Stimmt.“
„Gut, dass du trotzdem hier bist ...“
„Ist zumindest besser, als alleine zu Hause zu sein. Was ist mit deinem Bruder?“ Ich versuche, das Thema auf etwas zu lenken, dass mich mehr interessiert.
„Umgeknickt und Knöchel dick. Kann nicht laufen. Du hast also nichts besseres gefunden, als die Party hier?“
„Nein, leider – klingt aber so, als wärst du auch lieber wo anders?“
„Na ja, die Party ist mir wurscht – ich bin nur für den Auftritt hier. Sonst wäre ich wo anders.“
Walter platzt in die Maske. „Kinder, ihr müsst jetzt raus!“
Kurz darauf öffnet sich der Vorhang und ich, nein, James, deckt den Tisch ein. Ein wenig später erscheint die in Miss Sophie verwandelte Lisa auf der Bühne.
Zur „Mulligatawny Soup“ gibt es „very dry Sherry“ und die obligatorische Frage, nach der selben Prozedur wie im letzten Jahr.
„The same procedure as every year, James“ antwortet mir Lisa im akzentfreiem Oxford-Englisch. Ich träume akzentfrei davon, dass ihr Bruder statt ihrer hier sitzt und sich von mir mit Köstlichkeiten verwöhnen lässt.
Pflichtbewusst stolpere ich über das Elchfell aus dem schwedischen Möbelhaus. Sorry, Knut, war Walters Idee und sollte ein Zusatzgag werden. Kurz vor Mitternacht wird Knut dann meistbietend für einen guten Zweck versteigert – wie jedes Jahr.
Mit dem „North Sea Haddock“ gehe ich auf Miss Sophie zu. Sie hat dieselben Augen wie ihr Bruder. Nur gut, dass er jetzt nicht mit mir auf der Bühne spielt – ich würde einen Fehler nach dem anderen machen und vermutlich die ganze Aufführung versauen. Mit Lisa muss ich mich schon höllisch konzentrieren. Sie erinnert mich viel zu sehr an ihren Bruder. Die Ähnlichkeit der beiden ist mir bisher nie aufgefallen.
Nur gut, dass auch der Weißwein nicht wirklich Wein ist. Mit Alkohol wäre diese Rolle unspielbar. Nicht nur in diesem Jahr, sondern in jedem Jahr.
Das Huhn duftet gut, als ich es vor ihr abstelle. Hat sie mir grade zu gezwinkert? Habe ich etwas falsch gemacht? Wollte sie mich damit aufmuntern? Keine Zeit für solche Gedanken oder Panik. Ich muss mich auf meinen Text konzentrieren – und aufs Lallen.
„The same procedure as every year, James.“ Lisa schaut mir ins Gesicht und ihr Blick passt nicht zu dem, was sie sagt. Ihr Blick stellt eine Frage – oder fange ich an zu halluzinieren oder wirkt der nicht-getrunkene Alkohol? Konzentration! Ich darf nicht mehr an Marko denken! Ich darf Lisa nicht mehr als seine Schwester sehen!
Tatsächlich schaffe ich es – für ganze fünf Sekunden. Aber nur durch den Schreck, als mir fast der Teller mit dem letzten Gang aus der Hand rutscht. Dann ist Marko wieder allgegenwärtig in meinem Bewusstsein.
„Port with the fruit,“ yes, aber auch die selbe Prozedur wie im letzten Jahr?
„The same“ (Lisa schweigt für einen kurzen Moment.) „procedure as every year, James.“ Und sie schweigt nicht nur, sondern betont diesmal das „same“ deutlicher als das „every“.
Vermutlich habe ich mich nur getäuscht und gehört, was sie gar nicht gesagt hat. Um mich muss es also schlimmer stehen, als ich es angenommen habe. Hoffnungslos! Solange Marko durch meine Gedanken schwirrt, werde ich nicht mehr ordentlich spielen können. Hoffentlich habe ich den Auftritt heute nicht allzu sehr vermasselt.
Auf den Stufen die letzte Wiederholung der Frage nach der Prozedur. Lächelnd antwortet Lisa-Sophie: ...